von Fiete Aleksander
Als im Jahr 2015 die deutsche Medienlandschaft täglich neue Schreckensszenarien über Geflüchtete verkündete, ein sogenannter „Islamischer Staat“ im Nahen Osten entstand und Bewegungen wie Pegida die „Islamisierung des Abendlandes“ heraufbeschwörten, trafen sich in Berlin vier junge Muslim*innen und ein Christ – und machten Witze. Anders waren der Frust über die negative mediale Darstellung des Islams und die Spannungen zwischen muslimischer Community und der nicht muslimischen Mehrheitsgesellschaft nicht zu ertragen. Um diesen Status quo zu verändern, hatten Nemi, Farah, Younes, Marcel und ich eine Idee: Wir wollten Webvideos produzieren. Nicht weil wir es konnten, sondern weil wir etwas zu sagen hatten. Und weil wir Lust hatten, uns in diesem Feld auszuprobieren.
Unser Ideengeber Younes Al-Amayra sah schon lange einen großen Bedarf für muslimische Stimmen in der Medienlandschaft. Als studierter Islamwissenschaftler und Hobbyvideoproduzent engagierte er sich jahrelang in der muslimischen Community, zuletzt mit dem muslimischen Poetry-Slam-Projekt „i,Slam“. Er suchte nach einem neuen Format, mit dem sich einerseits muslimische Jugendliche und junge Erwachsene identifizieren können und andererseits ein nicht muslimisches Publikum erreicht wird. Wo sollte das besser gelingen als auf YouTube, der populärsten Webvideoplattform der Welt? Für uns und unsere Zielgruppe waren YouTube und Social-Media-Plattformen weit relevanter als das Fernsehen. Hinzu kam, dass im Netz Reichweiten möglich waren, die wir in Offlineprojekten nie hätten erreichen können. Doch ohne das passende Konzept wäre es schwierig geworden, uns unter den vielen YouTube-Angeboten wirklich Gehör zu verschaffen.
Erster Schritt: Satirekalifat errichten!
Muslime sind unintegriert, radikal und humorlos und fühlen sich in der Opferrolle ganz wohl – mit diesen häufig bedienten Rollenbildern wollten wir „Datteltäter“ aufräumen und ein neues Bewusstsein für muslimisches Leben in Deutschland schaffen. Denn damals wie heute entsprechen diese Wahrnehmungen und Zuschreibungen nicht unserer Lebensrealität. Wir verstehen uns als heterogene Gruppe mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, Auffassungen und Qualitäten und sehen in dieser Diversität ein Abbild der muslimischen Community, unseres gelebten Dialogs und unserer Koexistenz. Doch der Diskurs über den Islam wurde zur damaligen Zeit – und teilweise auch heute – vorurteilsbehaftet, verkrampft und emotional geführt. So emotional, dass uns Debatten und Diskurse stets als mühsam und ergebnislos in Erinnerung blieben. Um dem entgegenzuwirken, wählten wir die Satire als das Fundament unserer Videos. Hierbei stehen Lachen und Entertainment an erster Stelle. Humor ist ein universeller Eisbrecher und ermöglicht es, sich unangenehmen Themen und Fragen mit einer gewissen Leichtigkeit zu nähern. Jedoch verpflichteten wir uns, Videos zu produzieren, die nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch zum Nachdenken und Reflektieren anregen sollten. Mit den schmerzhaften Wahrheiten, die Satire erzählen kann, wollten wir auf Versäumnisse sowohl innerhalb als auch außerhalb der muslimischen Community hinweisen und einen gemeinsamen Dialog anregen. In diesem Sinn riefen Farah, Nemi, Younes, Marcel und ich das muslimische Satirekalifat „Datteltäter“ auf YouTube aus und erklärten den „Bildungsdschihad“. In unserer Gruppe versammelten sich immer mehr muslimische Frauen und Männer, ein Konvertit, ein Christ, Frauen mit und ohne Kopftuch, Männer mit und ohne Bart – ein Zusammenschluss, der sich innerhalb von drei Jahren mit sehr engen Freund*innen und Bekannten immer wieder erweitert und entwickelt hat. Seit 2017 haben wir auch endlich eine Ausländerin im Team: unsere Autorin Nour ist Österreicherin.
Zweiter Schritt: Bildungsdschihad für alle!
Einer der wichtigsten Bausteine unseres Erfolgs war und ist unsere Community. Nur mit ihrer Hilfe konnte unser Kanal wachsen und noch mehr Menschen erreichen. Denn anders als lineare Medienangebote ist YouTube nicht nur eine Webvideoplattform, sondern auch ein soziales Medium. Unsere Rezipient*innen kommentieren unsere Videos, diskutieren die Inhalte und geben uns ein direktes Feedback, das wir in zukünftigen Videos aufgreifen und reproduzieren können.
Obwohl unsere Community hauptsächlich muslimisch ist, könnte sie bunter und diverser nicht sein. Unser Kanal verbucht derzeit über 250 000 Abonnent*innen – eine multireligiöse, multiethnische und mehrsprachige Gemeinschaft, die unsere wöchentlich veröffentlichten Videos konsumiert und kommentiert. Hauptzielgruppe sind die 12- bis 30-Jährigen, etwa 60 % der Fanbase sind weiblich. Diese Vielfalt versuchen wir stets in unseren Videos zu porträtieren, um eine adäquate Repräsentation zu gewährleisten.
Früher fragten wir unsere Fans über die Videobeschreibungen oder am Ende eines Videos nach ihrem Feedback. Neue Videoideen sind auf diese Weise entstanden und konnten das thematisieren, was unserer Community wichtig war. Seit einiger Zeit bedienen wir auch Instagram als Kommunikationsweg, um Feedback einzubeziehen. Hier nutzen wir verschiedene Funktionen der App, um Anregungen für geplante Videos von unserem Publikum zu erhalten, z. B. für unser erfolgreichstes „Datteltäter“-Format, die Reihe „Wenn Rassismus ehrlich wäre“. Zwei YouTube-Videos aus dieser Reihe – zu den Themen „Schule„ und „Bewerbungsgespräch„ – haben mit jeweils über einer Million Views die höchsten Aufrufzahlen auf unserem Kanal. Doch warum ist diese Reihe so erfolgreich? Einerseits weil sie provokant mit dem Thema Rassismus umgeht und mit ihrer harten Satire gezielt Grenzen überschreitet. Das ist ungewohnt und spricht vor allem junge Menschen an. Andererseits entsprechen die Inhalte dieser Videos den Lebensrealitäten eines Großteils unserer Community. Als wir damals die Idee zum Format entwickelten, wollten wir mit dem Thema „Wohnungsbesichtigung“ beginnen. Wir starteten auf Instagram einen Aufruf und fragten nach rassistischen und diskriminierenden Erfahrungen, die unsere Community auf dem Wohnungsmarkt gemacht hatte. Allein die Masse an Nachrichten war bereits erschreckend. Aber noch gravierender waren die Erlebnisse und Erniedrigungen, die uns die Community mitteilte. Wir erkannten unsere Verantwortung, die mit steigender Popularität und wachsender Reichweite einhergeht, und nahmen uns vor, diese Beispiele aus dem echten Leben auf die „Leinwand“ zu bringen. Die Resonanz war sehr positiv, uns erreichten zahlreiche Dankesnachrichten und weitere Vorschläge für die Reihe. Gleichzeitig mussten wir auch mit viel Kritik an unseren Darstellungen umgehen. Kritisiert wurde die mögliche Reproduktion von Rassismen, die wir auch innerhalb der Gruppe diskutierten, um unsere Videos dahingehend zu verbessern.
Dritter Schritt: Die „einzig wahre Community“
Die Interaktion und der Austausch mit den eigenen Kanalabonnent*innen nennt man im Social Web üblicherweise „Community-Management“. Das beschreibt eine Form der Moderation oder Betreuung/Leitung der eigenen Community auf Onlineplattformen. Gleichzeitig würden wir als „Datteltäter“ unsere eigene Arbeit nicht nur als „Management“, sondern als „Community-Empowerment“ bezeichnen.
Im sozial-gesundheitlichen (Offline-)Bereich besteht der Begriff schon länger, in digitalen Zusammenhängen ist er eher neu und wenig erforscht. Community-Empowerment im „klassischen“ Sinne bedeutet, dass Organisationen und Vereine ausgesuchten Communitys Ressourcen und Handlungsoptionen zur Verfügung stellen, damit sie sich Selbstermächtigungsstrategien für sich und ihren Lebensraum aneignen. Damit lernen sie, sich und ihr Umfeld eigenständig zu verbessern. Community-Empowerment sorgt also auch dafür, dass eine bestimmte Gruppe lernt, sich zu organisieren, Steuerung zu übernehmen sowie Maßnahmen zu ergreifen, um sich Gehör zu verschaffen. Deswegen gehen Community-Management und Community-Empowerment einher, um nicht nur eine Repräsentanz zu schaffen, sondern auch aktive Akteur*innen im öffentlichen Diskurs heranzubilden. Als „Datteltäter“ versuchen wir, selbst ein Sprachrohr zu sein, ein Bindeglied zwischen unserem Kanal und der Community. Sie ist Adressat unserer Videos und gleichzeitig ihr thematischer Inhalt. Community-Management ist im Fall der „Datteltäter“ somit auch Community-Empowerment.
Doch manchmal bringen uns dieses anspruchsvolle Ziel und die vergleichsweise große Reichweite an unsere Grenzen. Uns erreichen mittlerweile immer mehr Nachrichten, in denen uns von persönlichen Schicksalen berichtet wird – von Zerwürfnissen mit der Familie, von Perspektivlosigkeit und Selbstzweifeln. Wir versuchen mit den zeitlichen und personellen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, bestmöglich auf die betroffenen Personen einzugehen. Da wir aber weder psychologisch noch theologisch ausgebildet sind, können wir meist nur mit aufmunternden Worten oder Empfehlungen für qualifiziertere Stellen wie das muslimische Seelsorgetelefon (http://www.mutes.de ) helfen. Unser Ziel ist es, diesen Bereich der Community-Arbeit auszubauen und weitere Formate und Angebote zu entwickeln, die sich noch spezifischer mit den Fragestellungen und Bedürfnissen unserer Community auseinandersetzen. Denn diese vermeintlichen spezifischen Lösungen sind der Schlüssel für eine selbstbewusste und gestärkte Community, die ihre eigenen Versäumnisse reflektieren und mit anderen Communitys interagieren kann.
Vierter Schritt: Die „Islamisierung“ des Dialogs
Ebenso wichtig wie satirische Sketche zu Migrationsdebatten, Rassismus und Radikalismus sind uns Videos, die sich mit muslimischem Leben auseinandersetzen. Zum Beispiel in unseren YouTube-Videos „Dinge, die muslimische Eltern sagen“ und „Wenn Muslime Besuch bekommen„. Auch für diese Videos sammelten wir mithilfe von Instagram Ideen und Inhalte aus der Community. Dieser Input macht unsere Videos noch authentischer und zu einem Spiegel der Lebensrealität unserer Rezipientinnen. Denn wir „Datteltäter“ möchten nicht nur die Stars unserer Community sein, sondern Inhalte ansprechen, die unsere Zielgruppe kennt und sie anregt, ihre eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Das Ziel dieser Videos ist es, Jugendliche zu empowern, sich selbst zu helfen. Als Botschafterinnen religiöser und ethnischer Minderheiten in Deutschland, Österreich und der Schweiz möchten wir eine Alternative bieten, als Gegenwehr zu alten Denkstrukturen, die von vorherigen muslimischen Generationen etabliert wurden und auch den islamfeindlichen Diskurs mitgeprägt haben. Diese Debatten dürfen nicht nur Extremistinnen jeglicher Art überlassen werden. Wir möchten eine neue Generation dazu ermächtigen, das Thema Islam und Musliminnen in Gegenwart und Zukunft anders zu beleuchten und differenziert zu besprechen. Mittels unserer Reichweite im Social Web appellieren wir an unsere Community, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und eine gesunde Diskussionskultur anzustreben bzw. aufrechtzuerhalten, denn letzten Endes sind Rassismus und Sexismus gepaart mit Gewalt oder Identitätssuche immer noch ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Aber auch hier ergeben sich natürlich Herausforderungen: Wir wählen bei unseren Videos gern überzogene Darstellungen, da wir Rollenbilder, Verhaltensweisen und Strukturen kritisch hinterfragen wollen. Doch nicht alle verstehen diese Form der satirischen Überspitzung, sodass es auch Personen gibt, die uns in diesem Zusammenhang eine negative Darstellung der muslimischen Community und des Islams unterstellen.
Doch die Inhalte unserer Videos sind nicht ausschließlich satirisch konzipiert, sie bieten auch Lösungsvorschläge, wie man beispielsweise im heutigen politischen, häufig auch islamophoben und fremdenfeindlichen Milieu als junger Mensch agieren kann. Das ist vor allem beim Thema hate speech wichtig, dem wir schon viele Videos widmeten. Deswegen engagieren wir uns auch bei der #NichtEgal-Kampagne von YouTube. Im Rahmen dieser Bildungsinitiative besuchten wir Schulklassen in Berlin und zeigten beispielhaft, wie wir in unserer Community-Arbeit mit Hass und Diskriminierung umgehen und diese von Kritik unterscheiden. Denn mit rhetorischen Verallgemeinerungen, wie sie tagtäglich in Medien und Politik Verwendung finden, werden die vielen individuellen Mosaiksteine dieser heterogenen Gesellschaft übersehen und es wird daraus eine homogene Masse geschaffen. Für uns als Identifikationsfiguren für deutsche Muslim*innen ist es daher umso wichtiger, auf die zahlreichen Facetten des muslimischen Lebens in Deutschland hinzuweisen und diese darzustellen. Wir kreieren Content, der sich aus der Realität speist, und wir empowern damit gleichzeitig betroffene Menschen. Nur so kann man sich als Community selbst helfen und dabei Aufmerksamkeit schaffen, um auf gesellschaftliche Missstände hinweisen zu können.
Autor
Fiete Aleksander, Jahrgang 1991, ist Gründungsmitglied der „Datteltäter“ und seit Anfang 2018 hauptberuflicher Künstler und Unternehmer im Bereich Videoproduktion. Zuvor absolvierte er an der Hochschule für angewandte Pädagogik in Berlin ein duales Studium der Sozialpädagogik und schloss 2018 erfolgreich mit einem Bachelor of Arts ab. In seiner Abschlussarbeit widmete er sich dem Thema Videoproduktion als medienpädagogisches Mittel für die inter- und transkulturelle Bildung und erhielt dafür die Bestnote. Während seines Studiums arbeitete er als Erzieher in einer Ganztagsgrundschule.
Quellen
- Muslimisches Seelsorgetelefon: http://www.mutes.de
- Datteltäter: Wenn Rassismus ehrlich wäre – Schule: https://youtu.be/NHKPREtHYDE (Abrufdatum 11.04.2019)
- Datteltäter: Wenn Rassismus ehrlich wäre – Wohnungsbesichtigung: https://youtu.be/KuBNboBBYTc (Abrufdatum 11.04.2019)
- Datteltäter: Wenn Rassismus ehrlich wäre – Bewerbungsgespräch: https://youtu.be/q8onp5KjqIs (Abrufdatum 11.04.2019)
- Datteltäter: Wenn Muslime Besuch bekommen: https://youtu.be/KRIgeHFeiKA (Abrufdatum 11.04.2019)
- Datteltäter: Dinge, die muslimische Eltern sagen: https://youtu.be/hWl7PSiLCWg (Abrufdatum 11.04.2019)